Anders

Innovationen, Widerstände, Übergänge

Das beschnittene Sommerloch

Über die schmutzige Willkür der Debatte.

Sommerloch-Themen spiegeln auf den zweiten Blick oft die menschliche Ebene großer moralischer (Kampf-)Linien unserer Zeit wider.
Diesmal geht es nicht um das quasi gottverbotene Ansehen von Häusern und den Raub der Seele seiner Bewohner, wenn diese öffentliche Ansicht digitalisiert und damit entehrt wird. Dieses Jahr geht es um den heiligen Ritus der Schwanzbeschneidung (bzw. der Vorhautentfernung).

Wer seine heilige Eichel nicht entblößt Gottes Antlitz entgegenstrecken kann, hat von Anfang an keine Chance später mal beim großen Boss finale Einkehr zu halten. (Sieht man von den progressiven Kräften innerhalb des Judentums ab, die irgendeinen Spezialdeal eingefädelt haben müssen, weil sie ihrem frischgeborenen Jüngling bei der Brit Shalom nicht am Schniedel rumsäbeln, sondern schlicht dem Jungen seinen Namen geben, ihn im jüdischen Glauben willkommen heissen und das ganze auch vollgültig durchgeführt von einem Rabbiner.)

Aus der Sicht eines aufgeklärten Menschen am Beginn des 21. Jahrhunderts muss man sich wundern, mit welcher Vehemenz gerade aus allen Richtungen religiöse Eiferer die Chance an den unbeschnittenen Eiern packen und mit gierigem Elan gegen Grund- & Menschenrechte und die Aufklärung im Allgemeinen zu Felde ziehen.

Die angebliche Physikerin und Noch-Bundeskanzlerin Merkel erklärt Deutschland zur „Komiker-Nation“, weil ein Richter gemäß der UN-Kinderrechtskonvention (Art. 24.3, pdf) und nicht aufgrund überkommenen religiösen Regeln geurteilt hat. Wenn das Comedy ist, dann gefällt mir dieser Humor. Er hat sowas menschliches.

Die hauptberuflichen Fanatiker im Schafspelz springen der Noch-Kanzlerin in ihren Qualitätsjournalismus-Kolumnen bei. Matussek zitiert in üblich erregter Manier im (Print-)Spiegel den Mosebach-Freund Kermani. Dieser verhöhnt die Aufklärung und ihre konkrete alltägliche Ausgestaltung in Grund- und Menschenrechten als „Vulgärrationalismus, dem der Sinn für das Heilige abhandengekommen sei.“(Spiegel, 30/2012, S. 122)

Matussek, Mosebach und Konsorten hängen einer gefährlichen Pseudo-Romantik nach, wenn sie behauptet, nur Gläubige könnten Staunen und Lieben sowie Grenzen anerkennen. Die Begeisterung für den ganzen Menschen, die Sorge für das sozial gerechte Miteinander und der schier unerschöpfliche Wissensdurst, um wenigstens kleine Teile des bunten Treibens im Universum zu verstehen, sind es, die den aufgeklärten Menschen staunen, lieben und streiten lassen. Wir sollten uns das von diesen biedermeierschen Früh-Tattergreisen und ihrer desillusionierten Babyboomer-Gefolgschaft nicht verderben lassen.

Aus der in rationaler und menschlicher Betrachtung richtigen Entscheidung, einem Kleinkind nicht länger grundlos Teile des Genitals zu entfernen, schmieden die religiösen Feinde einer selbstbestimmten offenen Gesellschaft ihre glutkalten verbalen Schwerter, mit denen sie meinen, den Zweifelnden irritieren und zu überkommenen Gottesschwüren verführen zu können.

Die offene Gesellschaft mag ab und an unerträglich sein, weil die Regeln für sorgsamen Umgang mit Kindern missachtet werden, ohne dass ein paternalistischer Staat einschreitet oder irgendein Herrgott Blitze auf die Sündiger herabfahren lässt. Fast 10% Adipositas unter Grundschüler, konsum- und leistungsverseuchte Kindheit und manch andere Gewalt an Kindern Leib und Seele lässt uns zweifeln an der erhofften Gerechtigkeit und zeigt uns, dass es noch viel Arbeit am Menschen gibt. Geeignete Regeln müssen nicht nur in Gesetzbüchern stehen, auch und gerade die Abstimmung des sozialen Miteinanders, gerade in Zeiten des allgemein gefühlten Kontrollverlustes, sind eine zu übende Errungenschaft einer offenen humanistischen Gesellschaft.

Ein Lehrer kann streng sein ohne Rohrstock, elterliche Erziehung ohne die schmetternde flache Rückhand ist möglich. Gewalt ist als Bestandteil von sozialen und religiösen Ritualen gerade bei Kindern gesellschaftlich zu ächten und zu bestrafen. Wenn es Jahrtausende niemand gestört hat, sollte dies nicht auch noch als Begründung für die Fortsetzung der Tat, sondern als Warnung dafür dienen, wie lange der Mensch hin und wieder braucht, um sich als Gemeinschaft weiterzuentwickeln. Wir sind nicht die Krone der Schöpfung und wir haben noch einen langen Weg vor uns, bevor wir uns wirklich Menschen nennen können. Das ist doch genau der Fun an der ganzen Sache.

Nachdem durch Aufklärung und Emanzipation die gröbsten Vergehen untereinander hinter uns gelassen oder zumindest stark zurückgedrängt wurden, ist es an der Zeit auch die kleinen Gewalttaten, die im Namen des Einen Herrn geschehen, zu überwinden. Progressive Juden und Moslems in der ganzen Welt tun dies, tausende Kinderärzte in vielen Ländern atmen auf, wenn die unsägliche Debatte endlich human gelöst wird und die Qualen der Knaben ein Ende haben. Gerade Deutschland hat einen Verpflichtung, Gewalt im Namen von Ideologien, seien es irdische oder überirdische, mit Vernunft, Überzeugungskraft und Entschlossenheit entgegenzutreten.

Ein kleiner Schnitt weniger für den Knaben, aber offensichtlich ein großer Fortschritt voran für die Gesellschaft. (So, und jetzt geh‘ ich mir Spock-Ohren schneiden lassen. Ich darf das, ich bin volljährig.)

2 Kommentare zu “Das beschnittene Sommerloch

  1. Und wenn die gesellschaftliche Schnappatmung sich wieder etwas beruhigt kann, kann man vielleicht auch mal versuchen zu verstehen, warum die Schnappatmung bei vielen – egal auf welcher Seite – einsetzt.

    http://blog.karlshochschule.de/2012/07/25/eine-frage-der-zugehorigkeit-warum-die-beschneidungsdebatte-so-aufregt/

    Wie immer bin ich kein Freund der scharfen Auseinandersetzung, sondern die des Perspektivenwechsels und des demokratischen, aufklärerischen Prozesse.

    Wenn wir uns gegenseitig verstehen wollen würden, wäre auch die Grundlage für eine gemeinsame Lösung gelegt. So bleibt es ein Kampf mit garantiertem Gesichtsverlust.

    BTW: Jens, schön dass du bloggst. Ich freue mich schon auf so manche Diskussion. An dir kann man sich so schön inspirativ reiben 😉

  2. Hans Example
    26/07/2012

    Kinder- und Jugendschutz wird ja von vielen immer so betont. Warum auch nicht hier. Beschneidung erst ab 18. Die Vorhaut läuft ja nicht weg.

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Information

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht am 25/07/2012 von in Kultur, Religion, Widerstände.

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